Nicaragua und das neue Jahrtausend
 


Es findet sich zur Zeit in Nicaragua wohl niemand, der die Zukunft des Landes nicht in düsteren Farben zeichnen würde. In Berichten zur aktuellen Situation des Landes überbieten sich NGOs verschiedener Bereiche in Anklagen und pessimistischen Analysen. Ob der Ausgang der Präsidentschaftswahlen Ende 2001 Auswege aus der politischen Misere weisen kann?

Kommunalwahlen: FSLN im Aufwind
Alles stand im vergangenen Jahr im Zeichen der Kommunalwahlen, die im November 2000 - erstmals nicht gleichzeitig mit den Präsidentschaftswahlen - abgehalten wurden. Nur kurze Zeit hatte man sich in progressiven Kreisen positiv auf die Möglichkeiten bezogen, die in der politischen Wertschätzung der lokalen Ebene liegen würden: Partizipation, direkte Demokratie, Dezentralisierung, Gemeindeentwicklung: “Wir müssen feststellen, dass wegen der Einverleibung des Wahlkampfes durch die beiden caudillos Ortega (FSLN) und Alemán (PLC) die erhoffte Veränderung der politischen Kultur Nicaraguas nicht stattgefunden hat”, schrieb die Nicht-Regierungsorganisation Red Nicaragüense por la Democracia y el Desarrollo Local in einer Analyse kurz vor den Wahlen.

“Was als Betrug begann, wird als Betrug enden", titelte die Zeitschrift envío. Die Wahlen waren im Vorlauf bereits durch den skandalösen Ausschluss einer großen Zahl von Parteien und das Verbot freier kommunaler Listen diskreditiert. Fast überall waren die Themen auf die beiden präpotenten Parteichefs Ortega und Alemán zugeschnitten, die lokale Ebene geriet zum Feigenblatt: “Der Wahlkampf macht keine Anzeichen, als hätte er relevante Veränderungen im so düsteren nationalen Panorama erreichen können. (...) Die Wahlergebnisse sind vorhersehbar, die paktierenden Parteien werden die Bürgermeisterämter unter sich aufteilen", schrieb die renommierte Menschenrechtsorganisation CENIDH im September. So geschah es denn auch.

Die regierende neoliberale PLC musste bei den Wahlen deutliche Niederlagen hinnehmen. Zwar konnte sie in den ländlichen Gemeinden ihre Mehrheiten behaupten, die meisten Städte Nicaraguas jedoch werden nun sandinistisch regiert - Verdienst solider politischer Arbeit von FSLN-Leuten der Basis und des Mittelbaus. Insbesondere der souveräne Sieg in Managua, wo fast 40% der WählerInnen leben, verschafft der FSLN für die nächste Zeit wichtige Punkte bei der Verteilung von Machtanteilen und eine gute Ausgangsposition für die Präsidentschaftswahlen im November 2001.

Der neue Bürgermeister Herty Lewites hatte mit seinem Wahlkampf, der ganz auf ihn persönlich zugeschnitten war und zu Partei und Daniel Ortega stets auf Distanz blieb, das vorexerziert, was Strategen schon lange als einzige Chance der Frente sehen: die Mobilisierung des gesamten sandinismo amplio - also all derjenigen, die sich in der Tradition der revolutionären 80er Jahre sehen, ob innerhalb oder außerhalb der Partei - sowie der großen politikmüden Mehrheit.

Mittlerweile ist der Wahlkampf voll entbrannt. Noch sortieren sich die Parteien mit dem Ziel, Wahlbündnisse zu schmieden. Wie schon bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr, als es der FSLN erstmals seit den 80er Jahren gelungen war, die hegemoniale Blockade des Rechtskonservatismus zu durchbrechen, ist das rechte Lager gespalten. Die Regierungspartei PLC ist in einer desolaten Lage: Austritte und Rausschmisse, Korruption und Skandale in nie gesehener Dimension haben sie zerrüttet, der unpopuläre Pakt mit der FSLN, dramatische makroökonomische Zahlen. Die lächerliche Figur, die der Präsident auf internationalem Parkett macht, tut ihr Übriges. Die Konservative Partei, die als einzige bei den Kommunalwahlen noch nennenswerte Erfolge feiern konnte, schreckt vor einer Allianz mit den Liberalen zurück und versucht, ein breites Bündnis gegen die beiden paktierenden Parteien, den sog. Dritten Weg, zu schmieden - bislang vergebens. Wie auch immer die Partnersuche für die Wahlen enden werden - ohne Bündnisse wird keine der beiden Seiten einen Sieg erringen können.

Dies allerdings wird schwierig für die FSLN. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als ob die Partei das lang ersehnte Wagnis eines neuen Präsidentschaftskandidaten eingehen könnte. Nur ein neuer Kandidat, so meinen viele, könnte den versprengten Sandinismus wieder vereinen und so die Frente wieder an die Macht führen. Daniel Ortega ist durch den Pakt, die den Mißbrauchs-Vorwurf seiner Stieftochter Zoilamérica und seinen skrupellosen politischen Autoritarismus schon lange kein Erfolg versprechender Kandidat mehr. Ein von vielen intellektuellen Köpfen und historischen KämpferInnen der FSLN unterschriebener Aufruf vom Januar für ein neues offenes sandinistisches nationales Projekt mit dem Ziel, die Wahlen zu gewinnen, blieb ohne Ergebnis, und Daniel konnte sich auf einem Parteikongress im Februar ein weiteres mal durchsetzen. Für viele der möglichen Partner ist dies ein fatales Symbol: mit Daniel bleibt die Frente eine geschlossene, auf Macht und Gehorsam eingeschworene Partei. Eine demokratische Öffnung - nach außen und nach innen - ist unter Ortega nicht drin.

Dennoch gelang es Ortega mit einem genialen Streich, den ehemaligen Obersten Rechnungsprüfer Augustín Jarquín und seine Partei Unidad Social Cristiana (USC) zu einer Allianz zu bewegen. Es sei “notwendig, die Hoffnung für das nicaraguanische Volk zurückzubringen”, sagte Jarquín kurz nach Bekanntwerden des Bündnisses. USC verfügt über exzellente Kontakte zur internationalen Christdemokratie (darunter zu der mexikanischen Regierungspartei PAN, der chilenischen DC von Eduardo Frei, der Regierungspartei von Costa Rica). Augustín Jarquín hatte sich im Amt des Obersten Rechnungsprüfers ersprießlichste Beziehungen mit den Geberländern und bestes Prestige im eigenen Lande geschaffen - für die FSLN ein Glücksgriff.

Politische Krise und Konsolidierung von Machtstrukturen
Wenn auch der Ausgang der Wahlen eher befürchtet denn erhofft werden kann, so bildet der Wahlkampf doch die zentrale Arena, in der die aktuellen Auseinandersetzungen um Machtanteile im Staat geführt werden. Alles scheint offen in diesen Tagen der politischen Krise, die durch die Änderungen in der Verfassung und des Wahlgesetzes ausgelöst wurde. “Die Absicht der paktierenden Parteien, die staatlichen Institutionen gemäß ihrer eigenen Interessen umzubauen, führte in ihrer Konsequenz zu einer allgemeinen Krise des politischen Systems selbst" (Red). Die Krise des Staates findet sich auf allen Ebenen, der ökonomischen, der politischen, der sozialen.

Gemäß des Berichts der Vereinten Nationen “Lage der Entwicklung der Menschheit“ leben in Nicaragua 72,6 % aller Haushalte marginalisiert und in Armut. Hinzu kommt die ausgesetzte Lage Nicaraguas im Treiben klimatischer und geologischer Extreme: Die Trockenzeit im Jahr 2000 war verheerend, in vielen Landesteilen verdorrte die Ernte. Als dann die Regenzeit einsetzte, schwemmte der Wirbelsturm Keith die Nachernte (postrera) weg, zerstörte abermals Häuser und Brücken. Noch immer sind 25.000 Familien durch den Hurrican Mitch 1998 ohne Bleibe. Masaya ging im Juli 2000 nur knapp an einer Katastrophe vorbei, als ein Erdbeben mit der Stärke 5,9 in nur 6 km Entfernung die Stadt erschütterte. Tausende von Personen blieben obdachlos, etwa 1500 Gebäude wurden zerstört.

Schuldenerlass – Schluckauf oder Heilmittel für die nationale Ökonomie?
Die Entwicklung der nationalen Ökonomie ist mehr denn je an Entscheidungen ausgerichtet, die außerhalb des Landes gefällt werden. Das Jahr 2000 – verkündet als Schlüsselzeitraum für die Aufnahme in die Entschuldungsstrategie HIPC – spielte sich ausschließlich vor dem Hintergrund der Fortschritte und Verzögerungen zu diesem Thema ab. Die politischen Beziehungen mit den Geberländern sind auf einem Tiefpunkt angelangt. International stehen sich zwei Positionen gegenüber. Auf der einen Seite Weltbank, IWF und USA, die zwar die Nichterfüllung wichtiger Punkte bei der Korruptions- und Armutsbekämpfung kritisieren, den raschen Eintritt Nicaraguas in die HIPC aber dennoch befürworteten. Sie befürchten, dass eine weitere Verzögerung Nicaragua ökonomisch, sozial und politisch noch mehr aus dem Gleichgewicht bringen würde. Außerdem läuft das Schuldenmoratorium des Club von Paris aus, das nach Mitch eingeräumt worden war. Ohne Eintritt in die HIPC müsste in diesem Jahr der Schuldendienst wieder aufgenommen werden – schlichtweg katastrophal für ein Land, das im Grunde nur noch durch internationale Kredite und die remesas, die Überweisungen der Exil-NicaraguanerInnen aus USA und Costa Rica, am Leben erhalten wird (bis zu 1,5 Millionen von rund 4,6 Mio. NicaraguanerInnen befinden sich im Ausland. Ihre Überweisungen an die Familienangehörigen erreichen jährlich mehr als 700 Mio. US$ und bilden damit die wichtigste Devisenquelle der nicaraguanischen Ökonomie!). Demgegenüber steht die Position der EU-Staaten, die ohne Fortschritte in good governance und Korruptionsbekämpfung keine weiteren Schritte einleiten wollten. Sie warteten die Resultate der Kommunalwahlen ab, am liebsten wollten sie einen Schuldenerlass aber erst mit der neuen Regierung nach November 2001 beginnen lassen.

Kurz vor Weihnachten wurde dann der seit dem W7-Gipfel in Köln 1999 versprochene „umfassende Schuldenerlass“ der internationalen „Gemeinschaft“ verkündet. Bis zu 3,3 Mrd US$ wurden zugesagt, der bisher weitreichendste Erlass im Rahmen der Entschuldungsinitiative. Ein Weihnachtsgeschenk?

Schaut man sich die Sache etwas genauer an, so wird schnell klar, dass so umfassend der Erlass nicht werden wird, und dass er am Ende eher der deutschen Regierung als der Bevölkerung Nicaraguas zugute kommen wird. Mittlerweile sind die Auslandsschulden Nicaraguas auf 6,5 Mrd. US$ angewachsen. Auflage des Erlasses sind die vom IWF definierten Strukturanpassungsmaßnahmen (ESAF) - Maßnahmen, die weitere Kreditaufnahmen sogar vorsehen! Nach einem Erlass sind die Forderungen für einen monatlichen Schuldendienst zwar nominal geringer als vorher (abgesehen von den letzten drei Jahren, in denen Nicaragua überhaupt keinen Schuldendienst leisten musste!), real aber hatte das Land ohnehin nie voll zahlen können. Das Ergebnis des „Erlasses“: der Schuldendienst wird auf ein neues, gerade noch leistbares Niveau definiert, die Gläubiger haben ihren bislang noch insolventen Schuldner wieder. „Der angebliche Erlass wird uns am Ende noch verschuldeter und abhängiger machen“, stellt Carlos Pacheco, Mitarbeiter beim Nicaraguanischen Zentrum für Internationale Studien und Mitglied bei Jubilee South, fest.

Basisarbeit und große Politik
“Seit nunmehr 10 Jahren werden die ökonomischen und sozialen Grundrechte der NicaraguanerInnen systematisch verletzt. In den letzten zwei Jahren kommt hierzu ein kalkulierter und direkter Missbrauch der politischen Grundrechte", konstatiert die Menschenrechtsorganisation CENIDH. Das nationale Panorama ist ernüchternd, die Situation der Bevölkerung fatal. Dem entgegen steht eine zähe und kraftvolle Arbeit einer Vielzahl von Basisorganisationen und NGO im Lande. Kein Land Lateinamerikas weist eine so hohe NGO-Dichte wie Nicaragua auf. Zwar können diese die globalen Strukturen des Finanzsystems, des Welthandels oder der internationalen Diplomatie nicht verändern, beim gelegentlichen Kräftemessen zwischen den sozialen Netzwerken und der Regierung können allerdings schon mal Erfolge verbucht werden, wie jüngst beim Versuch Alemáns, eine US- amerikanische Krankenschwester, die seit Jahren in Nicaragua arbeitet, zu kriminalisieren. Die Arbeit der vielen kleinen Projekte vor Ort, die nicht selten von Soli-Gruppen aus dem Norden unterstützt werden, ist wertvoll und notwendig. Politisch relevant aber werden sie nur, solange eine grundlegende Veränderung der politischen Verhältnisse nicht aus den Augen verloren wird. Gioconda Belli, die berühmte nicaraguanische Poetin, sagt dies in ihrem neuesten Buch: Nicht jeder kann eine Revolution machen; aber sie zu wollen und für die soziale Veränderung zu kämpfen, jeder auf seine Weise. Darauf kommt es an.

Andreas van Baaijen
Para Nicaragua e.V, Offenbach
Informationsbüro Nicaragua e.V., Wuppertal
März 2001